Cristina Barroso, Weg von zu Hause

 

Als ich eingeladen wurde, über „mein São Paulo“ zu schreiben, fragte ich mich: Was kann ich über eine Stadt schreiben, die mir zwar sehr wichtig ist, aus der ich aber vor über 30 Jahren weggezogen bin? Da merkte ich plötzlich, daß ich die Häuser, in denen ich als Kind wohnte, und die Straßen und Viertel meiner Jugend nie ganz verlassen habe.

Was mir im Rückblick auf diese Zeit als erstes in den Kopf kommt, ist der Schrecken einer lebensgefährlichen Situation. Als Vierjährige rannte ich nämlich einmal einem Ball hinterher und wäre dabei vor unserem Haus in der Rua Tavares Cabral fast überfahren worden. Dabei war es eigentlich eine ruhige Straße, in der unser weiß verputztes Haus mit den Fifties-Möbeln stand. Es waren aber nur einige wenige Meter bis zur Kreuzung Avenida Faria Lima und Avenida Rebouças und entnervte Fahrer versuchten dem starken Verkehr zu entkommen, indem sie eine Abkürzung durch unser Sträßchen nahmen. Es fehlten nur wenige Millimeter zwischen dem weißen VW Käfer und meinem kleinen, zerbrechlichen Körper. Ich überlebte, ohne die Gefahr zu spüren, und sah nur die fassungslosen Gesichter des Kindermädchens und des Paares hinter dem Steuer. Ich erinnere mich, daß ich mich stark fühlte, weil ich das Auto im richtigen Moment angehalten hatte.

Unser zweites Haus befand sich in der Straße Pedroso de Morais, an der Praça dos Omaguás auf Höhe der Padaria Cisne. Ich war dort nur selten auf der Straße – außer zum Süßigkeitenkaufen beim Bäcker oder einmal zum Besuch eines Musik-Festivals in der Grünanlage. Mein Bruder und ich waren meistens im Hinterhof, wo wir durch eine hohe Mauer und ein mächtiges, zur Straße hin blickdichtes Holztor an einem Ort mit wenig Grün eingeschlossen waren. Ich fühlte mich wie Dornröschen: Draußen war eine lebendige Welt voller Wunder, Geheimnisse und interessanter Leute, die entdeckt werden wollte – und wir mußten unsere Zeit in diesem langweiligen Hinterhof verbringen. Einen Ausweg bot schließlich der Gang ins Internat. Meine Eltern hatten sich aus wirtschaftlichen Gründen entschlossen, ihre Geschäfte in der Stadt zu verkaufen, um eine Auto-Niederlassung im Landesinneren zu betreiben, wohin sie schließlich auch umzogen. Jedoch weigerte ich mich mit meinen 13 Jahren, São Paulo zu verlassen – eine Stadt, die ich so gerne kennenlernen wollte. Ich hätte alles getan, um zu bleiben, und so bot sich als einzige Möglichkeit das Internat Santa Marcelina an, dessen Mauern jedoch noch höher als die unseres Hinterhofs waren. Das Leben mit Nonnen erwies sich dann auch schnell als eine Hölle auf Erden. Wegen schlechten Benehmens bekam ich am Wochenende Hausarrest und konnte ebensowenig etwas von der Stadt erleben wie vorher. Nach einem Jahr verließ ich resigniert das Internat und zog zu meinen Eltern, danach ging ich für ein Jahr zu meinem Onkel nach Chicago, um Englisch zu lernen.

Erst mit 19 Jahren kam ich wieder zurück in die Stadt. Ich zog zu meiner geliebten Großmutter in die Rua Bela Cintra – bis heute mein Lieblingsquartier und „mein São Paulo“. Von dort aus eroberte ich schließlich die Attraktionen dieser Stadt, überwand meine Ängste und riß alle Mauern nieder, die mich von den Straßen trennten, an deren Leben ich so gerne teilhaben wollte. Zusammen mit drei oder vier Freunden ging ich täglich um Mitternacht zu Fuß in die Stadt. Jede Nacht den Weg von der Uni in Pacaembú ins Zentrum, von der Avenida Paulista zur Rua da Consolação, hin zur berühmt-anrüchigen Bar das Putas, die zwar mit den schlechtesten Sandwiches der Stadt aufwartete, die aber zu dieser Zeit auch von einer intellektuellen Szene besucht wurde, die sich gerne unter das Rotlicht-Publikum mischte. Apropos Bar das Putas: Daß es ein paar Blöcke weiter ein Restaurant namens Sujinho (Dreckspatz) gibt, das so erfolgreich ist, daß es mit einer weiteren Fi-liale auf die andere Straßenseite expandieren kann, das gibt es nur in São Paulo. Offensichtlich war es nicht der Name, der es so erfolgreich machte.

Das alles kommt mir in den Sinn, wenn ich das Photo sehe, das in der Avenida Paulista in der Nähe der Rua Frei Caneca und von der Rua Cannabrava aus aufgenommen wurde. Es zeigt die nächtliche Großstadt, voller Lichter, fröhlich und jung. Diese Szene ist mir so vertraut, daß sie – sähe man die aktuellen elektronischen Geräte nicht – auch einen Moment aus meiner Vergangenheit zeigen könnte.

 

Cristina Barroso